"Kennel-Blindness": Die toxische Krankheit der Hundezucht

Wie die Unfähigkeit zur Selbstkritik ganze Generationen von Rassehunden zerstört und warum die meisten ZüchterInnen nicht einmal merken, dass sie infiziert sind.

"Kennel-Blindness": Die toxische Krankheit der Hundezucht
"Kennel-Blindness": Die toxische Krankheit der Hundezucht

Hast du dich jemals auf einer Hundeausstellung umgesehen? Oder die stolzen Fotos von Züchtern auf ihren Webseiten und Social Media Kanälen bewundert? Perfekt gestylte Hunde, glänzendes Fell, stolze Posen. Und hast du dich dann vielleicht gefragt, warum der Champion-Mops kaum Luft bekommt? Warum die prächtige Französische Bulldogge klingt, als würde sie jeden Moment ersticken? Warum der stolze Mastiff deutliche Anzeichen von Angst zeigt oder lethargisch durch den Ring eiert?

Ich habe das. Immer und immer wieder. Und ich habe die Antworten der Züchter gehört: "Das ist rassetypisch." "Der schnarcht nur süß." "Die ist halt etwas gemütlicher." Bullshit. Nennen wir das Kind beim Namen: Das ist oft das Ergebnis von etwas, das in Züchterkreisen gerne verharmlost oder gleich ganz ignoriert wird – “Kennel-Blindness” (Zwinger-Blindheit). Ein Phänomen, das weit mehr ist als nur ein bisschen Betriebsblindheit. Es ist eine gefährliche Mischung aus Verleugnung, Ego, falsch verstandener Liebe und einem System, das oft genug wegschaut oder die falschen Anreize setzt. Und ja, ich werde hier deutlich: Diese "Kennel-Blindness" ist einer der Hauptgründe, warum wir heute über Qualzuchten sprechen müssen – über Hunde, die aufgrund ihrer angezüchteten Merkmale leiden.

Was zum Teufel ist "Kennel-Blindness" eigentlich?

Stell dir vor, du investierst Jahre deines Lebens, dein ganzes Herzblut, dein Geld und deine Energie in eine Hunderasse. Du wählst Verpaarungen aus, ziehst Welpen auf, fährst zu Ausstellungen, baust dir einen Ruf auf. Deine Hunde sind deine Babys, dein Lebenswerk. Und jetzt kommt jemand und sagt dir: "Dein Champion hat ein massives Atemproblem." Oder: "Die Hüften deiner Zuchthündin sind eine Katastrophe." Oder: "Diese Falten sind ein Nährboden für Infektionen."

Was passiert? Der natürliche menschliche Reflex ist Abwehr. Verteidigung. Rationalisierung. Genau das ist der Kern der "Kennel-Blindness". Es ist die Unfähigkeit oder der Unwille, Fehler, Schwächen oder gesundheitliche Probleme bei den eigenen Hunden objektiv zu erkennen und anzuerkennen. Man sieht, was man sehen will. Man interpretiert Probleme als "Eigenheiten" oder "rassetypische Merkmale". Man vergleicht sich nur noch mit denen, die “schlimmere” Probleme haben, und erklärt sich damit unbewusst selbst zum "Besten unter den Schlechten" (Whataboutism).

Die Psychologie dahinter ist komplex:

  • Emotionale Bindung: Wer liebt, sieht oft über Fehler hinweg. Bei den eigenen Hunden, die Familienmitglieder sind, ist das besonders stark.

  • Kognitive Dissonanz: Es ist schmerzhaft, sich einzugestehen, dass das, wofür man so viel geopfert hat, fehlerhaft ist oder sogar Leiden verursacht. Also biegt man die Realität zurecht, bis sie wieder zum eigenen Selbstbild passt.

  • Bestätigungsfehler (Confirmation Bias): Man sucht und findet nur die Informationen, die die eigene Meinung stützen. Positive Richterberichte werden überbewertet, kritische Stimmen ignoriert oder als Neid abgetan.

  • Sozialer Druck & Ego: In der Züchterwelt geht es oft um Ansehen, Pokale, Championtitel. Fehler zuzugeben, könnte als Schwäche ausgelegt werden, den Ruf schädigen, potenzielle Welpenkäufer abschrecken.

  • Schuldumkehr: Wenn Probleme beim Nachwuchs offensichtlich werden (Krankheiten, Verhaltensauffälligkeiten, die klar auf die Zucht zurückzuführen sind), wird die Verantwortung externalisiert. Statt die eigenen Zuchtentscheidungen oder Linien kritisch zu hinterfragen, wird die Schuld auf den Welpenkäufer (falsche Haltung, Fütterung, Überforderung), den Tierarzt (Fehldiagnose) oder diffuse “Umwelteinflüsse” geschoben. Das schützt das eigene Ego und verhindert die notwendige Korrektur im Zuchtprogramm.

  • Finanzielle Investition: Manchmal hängen auch erhebliche Summen an bestimmten Zuchttieren. Ein Eingeständnis von Problemen könnte den "Wert" mindern.


"Kennel-Blindness" ist kein Zeichen von Dummheit. Es ist eine gefährliche psychologische Falle, die keineswegs nur "leidenschaftliche", sondern oft gerade auch egozentrische oder narzisstisch geprägte Persönlichkeiten gefangen nimmt – häufig ist es eine unheilvolle Mischung aus allem. Die Falle schnappt nicht plötzlich zu, sie zieht sich langsam enger und hat in der Hundezucht verheerende Konsequenzen – für die Tiere.

"Aber meine Hunde sind doch gesund!" – Die Anatomie der Verleugnung

Das ist der Satz, den man immer wieder hört. Oft gefolgt von Anekdoten über das hohe Alter eines einzelnen Hundes oder Beteuerungen, man würde ja alle vorgeschriebenen Gesundheitschecks und “weit mehr als vorgeschrieben” machen. Doch das kratzt nur an der Oberfläche. "Kennel-Blindness" zeigt sich oft im Detail, im Schönreden offensichtlicher Probleme:

  • Brachyzephalie (Kurzköpfigkeit): Das Röcheln, Schnarchen und die Kurzatmigkeit bei Möpsen, Französischen Bulldoggen, Boxern etc. wird als "normal" oder "niedlich" abgetan. Dass diese Hunde oft unter chronischem Sauerstoffmangel leiden, bei Hitze oder Anstrengung kollabieren können (BOAS - Brachyzephales Obstruktives Atemwegssyndrom), wird ignoriert oder heruntergespielt. Ein Züchter, der wirklich hinschaut, würde alles daransetzen, weg von brachycephalen Kopfformen wieder längere Nasen und offenere Atemwege zu züchten, statt den Status Quo zu verteidigen. Aber die "Kennel-Blindness" flüstert: "Die Richter lieben diesen Kopf!" oder "Die Käufer wollen genau das!"

  • Extreme Hautfalten: Bei Shar Peis, Bulldoggen oder Möpsen. "Das gehört zur Rasse!" Ja, aber die chronischen Hautentzündungen (Pyodermien), die schmerzhaften Augenprobleme durch einrollende Lider (Entropium), die sich in diesen Falten bilden, gehören nicht zu einem gesunden Hundeleben! Ein Züchter ohne Scheuklappen würde auf weniger extreme Falten selektieren. Der kennel-blinde Züchter pudert und cremt und redet es schön.

  • Exzessive Größe oder Kleinheit: Riesige Doggen oder Mastiffs mit kurzer Lebenserwartung und Gelenkproblemen. Teacup-Versionen von Chihuahuas mit offenen Fontanellen und fragilen Knochen. "Ein beeindruckender Rüde!" oder "So süß und winzig!" – die "Kennel-Blindness" fokussiert auf das Extrem, nicht auf die damit verbundenen Gesundheitsrisiken und die eingeschränkte Lebensqualität.

  • Rückenprobleme: Der lange Rücken des Dackels, der ihn anfällig für Bandscheibenvorfälle (Dackellähme) macht. Die Schraubschwänze bei Bulldoggen, die oft mit Wirbelanomalien (Keilwirbeln) einhergehen und zu Schmerzen und neurologischen Ausfällen führen können. Statt konsequent auf stabilere Rücken und gesündere Wirbelsäulen zu selektieren, wird das Problem oft als "Schicksal" oder "typisch" hingenommen.

  • Augenerkrankungen: Überzüchtete Glubschaugen bei Pekinesen oder Chihuahuas, die ständig verletzt oder trocken sind. Karoaugen beim Mastiff, die nichts anderes sind, als Ektropium (das Augenlid dreht sich nach außen). Vererbte Augenkrankheiten wie PRA (Progressive Retina Atrophie), die zur Erblindung führen, werden manchmal erst dann ernst genommen, wenn Gentests verpflichtend werden – und selbst dann wird manchmal getrickst oder beschönigt.

Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Das Muster ist immer dasselbe: Ein Merkmal, das vielleicht einmal eine leichte Ausprägung hatte, wird durch selektive Zucht ins Extrem getrieben. Die damit verbundenen gesundheitlichen Probleme werden ignoriert, verleugnet oder rationalisiert – befeuert durch die "Kennel-Blindness" des Züchters.

Das System schaut weg: Wie Vereine und Shows "Kennel-Blindness" befeuern

Jetzt wird es richtig unbequem. Denn die "Kennel-Blindness" ist kein reines Individualproblem. Das System der vereinsorganisierten Rassehundezucht trägt eine erhebliche Mitschuld. Ja, ich meine die Zuchtvereine und das Ausstellungswesen.

  • Fragwürdige Rassestandards: Viele Rassestandards sind vage formuliert oder beschreiben Merkmale, die bei extremer Auslegung zwangsläufig zu Gesundheitsproblemen führen. Statt diese Standards konsequent im Sinne der Tiergesundheit zu überarbeiten und zu verschärfen, wird oft an Traditionen festgehalten, die längst überholt sind. Wer legt fest, dass eine Nase fast nicht existent sein muss, um "rassetypisch" zu sein?

  • Ausstellungs-Zirkus: Hundeausstellungen sollen eigentlich der Zuchtwertbeurteilung dienen. De facto sind sie oft reine Schönheitswettbewerbe, bei denen das äußere Erscheinungsbild – oft nach aktuellen Modetrends interpretiert – über alles andere gestellt wird. Richter belohnen nicht selten extreme Ausprägungen, die zwar dem Standard entsprechen (oder einer bestimmten Interpretation davon), aber gesundheitlich bedenklich sind. Ein röchelnder Mops, der den Championtitel gewinnt, sendet ein fatales Signal an die Züchterwelt: Genau so soll er aussehen! Das fördert "Kennel-Blindness", denn wer will schon einen gesünderen, aber vielleicht weniger "typischen" Hund züchten, wenn er damit im Ring keine Chance hat?

  • Laxe Kontrollen und Alibi-Gesundheitstests: Ja, es gibt Gesundheitsuntersuchungen. HD-Röntgen, Augenuntersuchungen, Gentests. Aber was nützt das, wenn die Ergebnisse nicht konsequent in die Zuchtplanung einfließen? Wenn Züchter mit Hunden züchten, die zwar "gerade noch zuchttauglich" sind, aber dennoch Träger von Problemen? Wenn Vereine zwar Tests vorschreiben, aber die Interpretation der Ergebnisse und die letztendliche Zuchtentscheidung dem kennel-blinden Züchter überlassen? Wenn nicht auf Phänotypen (das tatsächliche Erscheinungsbild und die Funktion) geachtet wird, sondern nur auf Papiere?

  • Vereinsmeierei und mangelnde Transparenz: Innerhalb vieler Vereine herrscht ein starkes Konformitätsdenken. Kritische Stimmen werden oft mundtot gemacht oder als Nestbeschmutzer diffamiert. Es fehlt an einer offenen Fehlerkultur und an echter Transparenz über die Verbreitung von Erbkrankheiten innerhalb der Rasse. Diese Echokammern sind der perfekte Nährboden für "Kennel-Blindness". Man bestätigt sich gegenseitig, wie toll die eigenen Hunde sind, und schottet sich gegen Kritik von außen ab.

Das System krankt. Es belohnt oft genug genau das, was es eigentlich verhindern sollte: Die Zucht von Hunden, deren "Schönheit" auf Kosten ihrer Gesundheit geht. Und es bietet der "Kennel-Blindness" einen wunderbaren Schutzraum.

Die Folgen sind real: Vom "Schönheitsideal" zur tierschutzrelevanten Qual

Das ist kein abstraktes Problem. Das ist kein Kavaliersdelikt. Das ist Tierquälerei durch Zucht, oft ermöglicht durch "Kennel-Blindness" und systemisches Versagen. Die Hunde zahlen den Preis. Jeden Tag.

  • Sie zahlen mit Atemnot, wenn sie nur kurz spielen wollen.

  • Sie zahlen mit chronischen Schmerzen in Gelenken und Wirbelsäule.

  • Sie zahlen mit wiederkehrenden, quälenden Hautinfektionen.

  • Sie zahlen mit Augenverletzungen und Erblindung.

  • Sie zahlen mit neurologischen Ausfällen und Lähmungen.

  • Sie zahlen mit einer drastisch verkürzten Lebenserwartung.

  • Sie zahlen mit einem Leben, das oft mehr aus Leiden als aus Freude besteht.

Ich habe Hunde gesehen, die nach wenigen Schritten blau anliefen. Hunde, deren Augen permanent entzündet waren. Hunde, die vor Schmerzen kaum laufen konnten. Und daneben standen Züchter, die mir erzählten, das sei "normal" oder "nicht so schlimm". Nein, das ist nicht normal! Das ist das direkte Ergebnis einer Zucht, die Ästhetik über Gesundheit stellt, angetrieben von "Kennel-Blindness" und einem System, das dies zulässt oder sogar fördert.

Wenn ein Hund aufgrund seiner angezüchteten Merkmale dauerhaft leidet oder in seiner Lebensführung massiv eingeschränkt ist, dann ist das Qualzucht. Und wer Hunde mit Qualzuchtmerkmalen zur Zucht nimmt, verstößt gegen das Tierschutzgesetz (selbst in seiner jetzigen noch ausbaufähigeren Form). Punkt. Und "Kennel-Blindness" ist der Brandbeschleuniger dafür.

Raus aus der Echokammer: Was wir (und Züchter) ändern müssen

Es reicht nicht, mit dem Finger auf einzelne "schwarze Schafe" zu zeigen. Das Problem ist systemisch und erfordert ein radikales Umdenken – bei Züchtern, Vereinen, Richtern und ja, auch bei uns Käufern.

  • Für Züchter: Radikale Ehrlichkeit! Sucht aktiv nach Fehlern bei euren Hunden. Holt euch unabhängige, kritische Meinungen von außen (Tierärzte, erfahrene Züchter anderer Rassen, Physiotherapeuten). Stellt Gesundheit und Funktion über Show-Erfolge und Modetrends. Seid mutig genug, auch mal einen vielversprechenden Hund aus der Zucht zu nehmen, wenn er Probleme zeigt oder vererbt. Dokumentiert transparent und ehrlich. Brecht das Schweigen!

  • Für Vereine: Überarbeitet die Rassestandards konsequent nach Gesundheitsaspekten! Macht Gesundheit zur obersten Priorität bei Zuchtzulassungen und Ausstellungen. Führt funktionale Tests ein (z.B. Belastungstests für brachyzephale Rassen). Seid strenger bei der Durchsetzung von Zuchtverboten für belastete Tiere. Fördert Transparenz über Erbkrankheiten und öffnet die Zuchtbücher, um mit kontrollierten Outcross-Zuchtprogrammen wieder eine erforderliche genetische Diversität zu schaffen. Schafft eine Kultur, in der kritische Diskussionen möglich sind, ohne dass man gleich als Verräter gilt. Vielleicht braucht es sogar eine externe, unabhängige Kontrollinstanz?

  • Für Richter: Belohnt Gesundheit und Mäßigung, nicht Extreme! Lernt, gesundheitliche Probleme zu erkennen und zu ahnden, auch wenn der Hund ansonsten "schön" ist. Ein Hund, der im Ring kaum atmen kann, darf keinen Titel gewinnen!

  • Für uns Käufer: Augen auf beim Welpenkauf! Seid kritisch! Fragt nach Gesundheitsuntersuchungen der Elterntiere UND deren Ergebnissen. Schaut euch die Elterntiere genau an: Atmen sie frei? Bewegen sie sich mühelos? Haben sie übertriebene Merkmale? Glaubt nicht blind den Beteuerungen des Züchters ("Kennel-Blindness"!). Informiert euch unabhängig über rassetypische Probleme nicht nur bei Züchtern und Liebhabern, sondern auch bei Betroffenen. Unterstützt keine Züchter, die offensichtlich kranke oder extreme Hunde züchten, egal wie viele Championtitel sie vorweisen können. Eure Nachfrage steuert den Markt!

Es ist Zeit, die rosarote Brille der "Kennel-Blindness" abzunehmen. Es ist Zeit, das System der Vereinszucht kritisch zu hinterfragen und grundlegend zu reformieren. Es geht nicht darum, die Rassehundezucht an sich zu verteufeln, sondern darum, sie endlich konsequent auf das Wohl der Tiere auszurichten. Weg von der reinen Schönheits- und Extremzucht, hin zu gesunden, funktionalen und lebensfrohen Hunden.

Jetzt bist Du dran!

Was denkst DU darüber? Hast du ähnliche Erfahrungen gemacht? Bist du vielleicht selbst Züchter und siehst die Dinge anders? Oder bist du Tierarzt und kannst die Leiden aus erster Hand bestätigen?

Ich bin überzeugt: Wir müssen darüber reden! Laut und deutlich. Schluss mit dem Schönreden und Wegschauen.

Schreib mir deine Meinung, deine Erfahrungen, deine Kritik oder Zustimmung in die Kommentare! Und wenn du denkst, dass dieser Artikel wichtig ist, dann teile ihn bitte, damit wir möglichst viele Menschen erreichen und vielleicht endlich etwas bewegen können.

Lasst uns gemeinsam gegen die Blindheit kämpfen – für das Wohl unserer Hunde!

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